Häufig fällt und die Sünde im alltäglichen Leben gar nicht so extrem auf. Woran liegt das und wie wird die Sünde in der heutigen Zeit eingedämmt?
 


Angesichts der Universalität der Sünde, der durchdringenden Verdorbenheit und der geistlichen Unfähigkeit des Menschen, dürfte das heutige Leben auf der Erde eigentlich nicht mehr als der Vorgeschmack der Hölle sein. Der Mensch ist rücksichtslos, grausam, hochmütig und selbstsüchtig, er ist in allen Dingen gegen Gott. Dennoch erleben wir das nicht jeden Tag so extrem. Wir finden nette Nachbarn, vertrauenswürdige Geschäftspartner, freundliche und hilfsbereite Menschen. Wir finden viel Gutes in der Kunst und in der Kultur, was der Menschheit nützlich ist. Wie kommt das?

Augustinus sprach diesbezüglich gegenüber seinen pelagianischen Gegnern von „splendida vitia“, also von verschwenderischen Tugenden, welche aus Selbstliebe und zur Verherrlichung des Menschen ausgeübt werden.

Calvin schrieb diese Dinge der Gnade Gottes zu, einer Gnade welche die Kraft der Sünde in den natürlichen Menschheit eindämmt. Diese Gnade ist zu unterscheiden von der rettenden Gnade Gottes in Christus, welche er dem bußfertigen und gläubigen Sünder schenkt, und welche zu einer völligen Erneuerung der menschlichen Natur dieses Sünders führt. Spätere Theologen bezeichneten sie als die „allgemeine Gnade“. Obwohl Calvin nicht eine vollständige Theologie der allgemeinen Gnade entwickelte, erkannte und formulierte er doch sehr klar das Prinzip.

Institutio I,3,3; II,2,14+15 (sinngemäß): „Inmitten der Verdorbenheit des Menschen ist Raum für die Gnade, welche diese Verdorbenheit eindämmt. Dazu kommen die Künste, welche Gott den Menschen als gnädige Gaben gegeben hat. Auch alle guten Fähigkeiten des Menschen gehören dazu. Obwohl der Mensch das ursprüngliche Bild Gottes verloren hat, ist er doch von Gott mit Talenten gesegnet. Er vermag ein Stück Wahrheit zu erkennen, er vermag Teile der Wahrheit zu äußern, er vermag außergewöhnliche Gaben zu entwickeln. All das sollten auch die Gläubigen nicht in den Ungläubigen verachten.“

Spätere Vertreter der Lehre von der allgemeinen Gnade sind Hermann Bavinck (Kampen/1894) und Abraham Kuyper, der ein dreibändiges Hauptwerk darüber veröffentlichte (einen historischen Band über die Geschichte der allgemeinen Gnade von Noah bis in die Ewigkeit hinein, einen lehrmäßigen Band über die Beziehungen zwischen der allgemeinen Gnade und der Schöpfung, der Vorsehung, der Weltgeschichte, der Gemeinde, dem Fluch und der Kultur. Schließlich einen praktischen Band, welcher das Konzept auf alle Bereiche des menschlichen Lebens anwendet).

G.C. Berkouwer (Man, The Image of God, Kapitel 5) sagt: „Diejenigen, welche die allgemeine Gnade anerkannten, wünschten der Tatsache Rechnung zu tragen, dass wir im wirklichen Leben fast nie dem Gegensatz zwischen äußerster Boshaftigkeit und vollkommener Heiligkeit begegnen, ja dass sogar in dem Leben von Nichtchristen Handlungen sichtbar werden, welche eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit den guten Werken der Gläubigen aufweisen.“

Es gab auch Gegner des Konzepts, wie zum Beispiel Herman Hoeksema, Henry Danhof oder Klaas Schilder, deren Theorien jedoch von der Kirche zurückgewiesen wurden.

 

7.1 Die biblische Grundlage der allgemeinen Gnade

Die Geschichte von Abraham und Abimelech (1Mo 20): Gott hält Abimelech durch das Gebet Abrahams davon ab, eine tödliche Sünde zu begehen.

 

Gott verzögert aus Gnade das Gericht, aber am Ende muss es kommen.

Pred 8,11-13: „Weil der Richterspruch über die böse Tat nicht rasch vollzogen wird, darum ist das Herz der Menschenkinder davon erfüllt, Böses zu tun. Wenn auch ein Sünder hundertmal Böses tut und lange lebt, so weiß ich doch, dass es denen gut gehen wird, die Gott fürchten, die sich scheuen vor seinem Angesicht. Aber dem Gottlosen wird es nicht gut ergehen, und er wird, dem Schatten gleich, seine Tage nicht verlängern, weil er Gott nicht fürchtet!“

 

Gott hat Mitleid mit dem Vieh und mit den Unmündigen. Er gibt Gnade.

Jon 4,10-11: „Da sprach der HERR: Du hast Mitleid mit dem Rizinus, um den du dich doch nicht bemüht und den du nicht großgezogen hast, der in einer Nacht entstanden und in einer Nacht zugrunde gegangen ist. Und ich sollte kein Mitleid haben mit der großen Stadt Ninive, in der mehr als 120 000 Menschen sind, die ihre rechte Hand nicht von ihrer linken unterscheiden können, dazu so viel Vieh!“

 

Gott lässt es regnen auf Gerechte und Ungerechte.

Mt 5,45: „… damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte.“

 

Die Menschen stehen unter der Selbstoffenbarung Gottes anhand der Schöpfung (Rö 1,18-32). Sie können sich entscheiden, diesen Gott zu verehren oder nicht. Wenn sie absichtlich wider besseres Wissen den falschen Weg wählen, dann kommt ein Moment, wo Gott ihnen seine allgemeine Gnade entzieht und sie dahingibt (paradidomi, Aorist). Das geschieht in einem Moment, und sie sind dann verloren, ohne es zu wissen.

 

Gott dämmt die Sünde dadurch ein, dass er eine menschliche Obrigkeit dazu eingesetzt hat, sie zu bestrafen (Rö 13,1-7; 1Petr 2,13-17). Auch diese Abschreckung ist eine Form der allgemeinen Gnade, denn sie hindert den Menschen daran, in schwere Sünde zu fallen und sich der Rettung Gottes zu verweigern.

 

Die Zurückhaltung der Sünde wird einmal weggenommen werden, wenn der Mensch der Sünde am Ende des Zeitalters erscheint. Ohne Gottes gnädige Kontrolle wird dann die Sünde der Menschen ungehemmt zum Ausbruch kommen.

2Thess 2,7-8: „Denn das Geheimnis der Gesetzlosigkeit ist schon am Wirken, nur muss der, welcher jetzt zurückhält, erst aus dem Weg sein; und dann wird der Gesetzlose geoffenbart werden, den der Herr verzehren wird durch den Hauch seines Mundes, und den er durch die Erscheinung seiner Wiederkunft beseitigen wird, …“

 

7.2 Die Mittel zur Eindämmung der Sünde

Thomas von Aquin und viele andere meinten, dass es durch den menschlichen Verstand geschehe. Das kann nicht sein, denn der Verstand des Menschen rechtfertigt sehr oft gerade die Sünde: Rationalisierung.

Als erstes benutzt Gott seine allgemeine Offenbarung, welche das Gewissen des Menschen beeindruckt (Rö 2,14-15). Dieser Eindruck ist ein Naturgesetz, welches Gott in die Schöpfung und in die Herzen der Menschen hineingelegt hat. Das bedeutet nicht, dass Gottes Gesetz in die Herzen der Heiden geschrieben ist, so wie es bei den Gläubigen der Fall ist, sondern dass das Werk eines Gesetzes in ihren Herzen geschrieben ist. Es ist ein Werk dieses Naturgesetzes Gottes, das sie bestimmte Arten von äußerem Verhalten als gut oder schlecht erkennen lässt. Sie erkennen einen Unterschied zwischen falsch und richtig, zwischen Bestrafung und Belohnung. Den Gläubigen ist das Gesetz in die Herzen geschrieben, sie lieben dieses Gesetz und versuchen aus voller Zustimmung zu Gottes Wegen dieses Gesetz zu halten. Das ist ein Unterschied. Es ist letztlich der Unterschied zwischen der allgemeinen und der rettenden Gnade.

Das zweite Mittel wurde bereits erwähnt, es ist die Anwendung von verschiedenen Strafen durch menschliche Institutionen, welche von Gott eingesetzt sind.

Das dritte Mittel ist die Zwischenmenschlichkeit, und zwar in dem Sinne, dass wir in vielfältige Beziehungen hineingestellt sind, welche einen kontrollierenden und mäßigenden Einfluss auf uns ausüben (G.C. Berkouwer). Auch der natürliche Mensch fürchtet für gewöhnlich die schlimmen Konsequenzen, welche vielleicht ein Ehebruch auf seine ganze Familie und auf seine Bekannten haben könnte. Dieser Mechanismus funktioniert allerdings dann nicht mehr, wenn die gesamte Gesellschaft so verdorben ist, dass sie Sünde nicht nur toleriert, sondern sogar fördert. Heute leben wir leider mehr und mehr in einer solchen Gesellschaft.

 

7.3 Eine Wertung der Lehre von der allgemeinen Gnade

Die Lehre ist oft missbraucht worden, um den Ernst der Sünde, die absolute Notwendigkeit der Errettung und den gewaltigen Unterschied zwischen Christen und Nichtchristen herunterzuspielen. Sie wurde benutzt, um der Allversöhnung in die Hände zu spielen. Andererseits hat sie jedoch auch eindeutig ihren Wert. Sie unterstreicht nämlich die zerstörerische Macht der Sünde, denn nur durch die allgemeine Gnade bewahrt Gott die Menschheit vor dem sofortigen Untergang.

Sie führt uns zu der Erkenntnis, dass große Gaben und Begabungen auch in Nichtchristen als Gaben Gottes anzuerkennen sind: Kunst, Architektur, technische, soziale und kulturelle Errungenschaften. Diese Dinge sind uns allen nützlich, und als Christen sollten wir auch den Nichtchristen Achtung erweisen, denn sie dienen uns oftmals ganz wesentlich durch ihre Fähigkeiten und Anstrengungen.

Die allgemeine Gnade Gottes ermöglicht erst eine Kultur und Zivilisation, in welcher wir alle leben können. Ohne diese Gnade wäre die Erde tatsächlich ein „Vorort der Hölle“. In der Ewigkeit des Feuersees wird Gott mit dieser Gnade nämlich nicht mehr anwesend sein, denn er wird auf diesen Ort niemals mehr schauen. Es wird dort für immer und ewig die absolute Gottverlassenheit herrschen, mit allen ihren unvorstellbaren Konsequenzen. Was das bedeutet, werden die verlorenen Menschen erst in dem Augenblick erfahren, in welchem sie am letzten Tag an diesen Ort verwiesen werden. Dante Alighieri hat es in seiner Comedia divina in eindrucksvollen Worten zum Ausdruck gebracht: „Wer hier eintritt, der lasse alle Hoffnung fahren.“ Es gibt einen ewigen Ort, an welchem keine Hoffnung mehr ist.

Die Erde ist auch in unserer Zeit noch immer Gottes Erde. Daher sollten wir trotz der Gewissheit der kommenden neuen Erde dennoch bestrebt sein, die Lebensumstände in unserem persönlichen Verantwortungsbereich zu verbessern. Das hat auch der Herr selbst in seinem Dienst auf der gefallenen Erde getan. Die christliche Mission in unserer Weltzeit umfasst Wortverkündigung und Tat, denn der ganze Mensch soll Gott dienen. In der neuen Welt werden die Nationen ihre Herrlichkeit vor den Herrn bringen. Wir wissen nicht genau wie das aussehen wird, aber es ist denkbar, dass es eine bereichernde Auswirkung auf die Zukunft haben wird, wenn die Christen bereits jetzt in der Gegenwart dem Herrn dienen. Laut Off 14,13 folgen die Werke der entschlafenen Christen ihnen nach. Das kann nur bedeuten, dass das was wir heute tun Auswirkungen für unser Leben mit dem Herrn in der Ewigkeit des neuen Himmels und der neuen Erde haben wird. In der neuen Weltzeit wird es keine Sünde mehr geben. Sie wird nicht nur eingedämmt sein, sondern abgeschafft.